Allzuselten, so mag es uns vorkommen, erscheint eine wirklich wichtige und nicht weniger interessante Autobiografie. Etwa wie „Hautnah“ von Paul McCartney vor zwei Jahren. Ist doch der Ex-Beatle aus der Musikgeschichte nicht wegzudenken und eröffnet uns in seinen Memoiren spannende Einblicke in die Musikszene und die Zeit des frühen Rock ‘n‘ Roll. John Lennon, Abbey Road, Musiktourneen und Vietnamkrieg-Protest. Wer sich nun fragt, wie diese Einleitung nun ihren Bogen zur Autobiografie von Gunilla Palmstierna-Weiss zu schlagen vermag, dem sei geraten: Abwarten. Denn wo das eine Leben im Kontext der Musik stattfand, da ist das andere in großen Teilen im Rahmen des Theaters verortet.
So liest sich Gunilla Palmstierna-Weiss‘ Autobiografie „Eine europäische Frau“ nicht bloß wie persönliche Memoiren, sondern darüber hinaus wie ein zeitgeschichtliches Dokument über das vergangene Jahrhundert: Der zweite Weltkrieg, der kulturpolitische Entwicklung der Nachkriegszeit in Schweden und Europa, die Gruppe 47, der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, die Theaterlandschaft in Europa, das geteilte Deutschland und die Arbeit an verschiedenen Theatern rechts und links des Eisernen Vorhangs.
Beginnend mit der Großvätergeneration der väterlicherseits in Stockholm und mütterlicherseits bei Mainz ansässigen Vorfahren, einerseits herkommend aus adligen Ränken und Rängen andererseits aus einer jüdischen Druckereidynastie, nimmt sie die beiden losen Fäden auf und führt sie unterhaltsam zusammen. Zufälle und wechselhaftes Geschick sind es, die die Menschen zusammenbringt und auseinandertreibt. Palmstierna-Weiss versteht es nicht nur, die wechselvollen Wahlverwandschaften darzulegen, die zu ihrer eigenen Geburt geführt haben, sie vergisst dabei auch nicht, ihre Verwandten wie Figuren in ihren historischen Kontext zu setzen inmitten des Wechselspiels staatlicher Politik und dem Wandel Europas, in dem der Faschismus immer markantere Züge annimmt. Bald dämmert es dem Leser, dass dies hier nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch eine Geschichte Europas ist.
Als dann durch Gunillas Geburt sie selbst zur Protagonistin ihrer Geschichte wird, beginnen sich diese Memoiren mitunter wie eine Geschichte der Entbehrungen zu lesen. Zunächst ist da die Entbehrung elterlicher Zuwendung und Liebe. Hinzu kommen die in ganz Europa herrschenden Fluchtbewegungen vor dem Wüten des Dritten Reichs. Und selbst als Frieden und Liebe dann später im Schoß einer eigenen Familie gefunden wird, werden diese immer wieder durchkreuzt von privatem oder globalem Geschehen. Wie eine Germaine de Staël ein Jahrhundert vor ihr reist auch Palmstierna durch Europa, getrieben durch den Wandel und die Umbrüche der Zeit.
Ein wesentliches Kernstück ihres Lebens bildet die Liebe und Ehe mit Peter Weiss, dem Schriftsteller und Dramatiker, den sie 1952 auf einem Jahrmarkt kennenlernt. Dort kommen sie, jeder ein Kind an der Hand, erstmals ins Gespräch, welches in dem Ausruf Peters endet: „Wenn wir einmal eine Tochter bekommen, soll sie Nadja heißen.“ Was da im Flirt verlautbart wurde, manifestiert sich schnell in einer Beziehung. Trotzdem wird es noch zwanzig Jahre brauchen, bis die im Scherz prophezeite Nadja geboren wird.
Die Erfolge ihres Lebens sind nicht zuletzt dem starken Charakter der Autorin zu verdanken, die ihr als auch ihrem Mann vergönnt sind. Palmstierna-Weiss‘ Werdegang als Keramikerin, Szenografin, Kostümbildnerin, Autorin und Kuratorin zeigt ihre unermüdliche Kreativität, Vielseitigkeit und Durchsetzungskraft – in einer grundsätzlich chauvinistischen und von Männern dominierten Welt.
Palmstierna-Weiss ist von Anbeginn ihrer Beziehung mit Peter Weiss mehr als nur eine stete Begleiterin durch dessen Werdegang vom Filmemacher zum Dramatiker und Schriftsteller, sondern erweist sich als unerlässliche Impulsgeberin, Kritikerin und Gesprächspartnerin in dessen Schaffen. Diese Kooperation und der Einfluss beider auf das Schaffen des anderen kann nicht unterschätzt werden. Ihre bühnenbildnerische Arbeit nicht nur der Stücke des Autors sind Teil einer modernen Szenografie. Nicht ohne Stolz, doch ohne Eitelkeit schildert uns Palmstierna-Weiss dies. So entsteht in ihrer Beschreibung eine schlüssige Entstehungsgeschichte ihres eigenen Schaffens und dem ihres Mannes. Die wechselseitigen Anregungen, welche die tiefe Liebe der beiden prägten, waren nicht nur der Grundstein für die Ehe, sondern auch die Brücke über manche Krisen hinweg.
Peter Weiss ist nicht ohne Gunilla Palmstierna-Weiss zu denken, ebenso gilt das für Größen wie den Theater- und Filmregisseur Ingmar Bergman. Dies mag auch nicht ganz zufällig als Vorbild und Abziehbild dafür gereichen, dass die Männer in allen Bereichen des menschlichen Schaffens nicht allein wirksam sind, dass die hinter oder neben ihnen stehenden Frauen mehr als nur emotionale Stützen, wenn nicht gute Ratgeber oder gar ebenbürtige Teilhaber ihrer Umsetzungen sind.
Was nicht minder eindrucksvoll und schicksalshaft scheint, sind die Begegnungen von Palmstierna-Weiss mit den Größen ihrer Zeit: Sie begegnet Jean-Luc Godard, Henri Langlois, Andy Warhol, John Cage, Shirley Temple, Lois Buňuel, Alexander Kluge, Erwin Piscator, Allen Ginsberg, Sartre und Simone de Beauvoir, William S. Burroughs, Arthur Miller, Susan Sontag, Theo W. Adorno und vielen mehr. Manche Zusammentreffen sind wie Streiflichter: kurze eindrucksvolle Begegnungen. Andere hingegen münden in einer produktiven Zusammenarbeit oder gar langjährigen tiefen Freundschaft, so mit Peter Brook, Helene Weigel, Alexander Kluge, Ingmar Bergman oder Rudi Dutschke. Palmstierna-Weiss begegnet Köpfen, welche das moderne Europa mitgestalten – und wird selbst Teil der Umgestaltung im Bereich der Theaterbühnen.
Liest man Gunilla Palmstierna-Weiss‘ Autobiografie, wird man das Gefühl nicht los, dem kompletten zwanzigsten Jahrhundert die Hand zu schütteln: Es ist, als lese man ein Who-is-Who aller denkbaren Bereiche der Kultur. Doch liefert Palmstierna-Weiss hier keineswegs eine Nabelschau ihrer Begegnungen mit all den Persönlichkeiten, welche die europäische Kultur noch heute beeinflussen und als stilprägende und kanonische Künstler*innen und Kulturschaffende gelten.
Zur eingangs erwähnten Referenz des Ex-Beatles Paul McCartney: Nicht nur das Engagement gegen den Vietnamkrieg mögen die Beatles mit dem Ehepaar Weiss gemein haben: Die Musikgruppe um John Lennon, Paul McCartney, Ringo Starr und George Harrison wünschten sich von Peter Weiss nach dem Durchbruch von Peter Brooks theatraler Verfilmung des Stückes Marat/de Sade ebenfalls eine Revue in der Art seiner weltweit erfolgreichen Inszenierung. Da der Autor aber offensichtlich die Bedeutung der Musikband verkennt und zudem an seinem Stück Die Ermittlung arbeitet, kommt es nicht zu dieser Kooperation, die wohl einzigartig gewesen wäre. Seine Kinder hielten laut Aussage von Palmstierna-Weiss diese Absage für unverzeihlich!
Fraglich, ob die schwedische Übersetzung des Titels Minnets spelplats (wörtl. übers.: Der Spielplatz der Erinnerung) im Deutschen mit Eine europäische Frau eine sinnvolle sowie angemessene Entsprechung gefunden hat. Wohnt dem schwedischen Titel noch etwas persönlich-Biografisches inne, so hat sich das Verlagsmarketing für den deutschen Buchmarkt eher zu einem historisch verortenden Slogan hinreißen lassen. Das wirkt etwas windschief, bedenkt man, dass hier jemand seinen Memoiren einen solch unbescheidenen Namen gegeben haben soll. Dies tut aber dem Umstand keinen Abbruch, dass darin ein in jeder Hinsicht reiches Leben ausgebreitet wird, zu dem das Format des prätentiösen Titels dann durchaus doch passen will: ereignisreich, geistreich und kosmopolitisch.
Gunilla Palmstierna-Weiss: Eine europäische Frau
Übersetzung: Jana Hallberg
Verbrecher Verlag, 380 Seiten, 39,00 EUR
ISBN 978-3-95732-517-4