Es ist nicht ganz leicht, Peter Weiss und sein Verständnis von Widerstand zu beleuchten ohne sofort bei seinem Jahrhundertwerk, der Romantriologie Die Ästhetik des Widerstands, zu landen. Zu leicht rückt eine Lesart in den Vordergrund, die erklärt, wie großartig und wichtig es war, dass Peter Weiss den Menschen, die im Widerstand gegen das Naziregime kämpften, ein literarisches Denkmal setzte. Es muss mehr gesagt werden, um dabei etwas über Peter Weiss selbst zu erfahren. Es sei hier also ein anderer Ausgangspunkt gewählt, dichter am Leben und Arbeiten des Autors, um seinen Widerstand und seine Entwicklung hin zu einem widerständigen Künstler zu verstehen.
Weiss gilt bis heute als politischer Künstler par exellence. Er musste sich von seiner Herkunft, der Familie, den Traditionen und Vorurteilen befreien, bevor er sich existenziellen gesellschaftspolitischen Grundfragen widmen konnte. Dies lässt sich in seiner Biografie und seinem Werk nachvollziehen. So ist Widerstand für Weiss nicht nur ein anhaltendes Schlüsselmotiv der Prosa- und Theatertexte, sondern steht auch immer im Zusammenhang mit komplexen persönlichen und allgemein psychologischen, politischen und ästhetischen Zusammenhängen. Immer ist Widerstand verbunden mit ihm selbst, seinem Aufwachsen, seinen Erlebnissen und Erfahrungen in einer Welt, die durch Faschismus und später durch Imperialismus und Stalinismus geprägt, zerstört und verändert wurde. Aufwachsen bedeutet für Weiss grundsätzlich Aufwachen.
Weiss versucht sein Leben lang, Ausdrucksformen für seine innere Welt, seine eigenen Gefühle, Träume, Ängste und Wünsche zu finden, um die auf ihn wirkenden Ereignisse der äußeren Welt (der familiäre, politischen und gesellschaftlichen Situation) zu verarbeiten. Er versucht, sich zu behaupten, Orientierung zu gewinnen und später, die Verhältnisse aktiv zu verändern. Insofern ist das Spannungsverhältnis zwischen innerer und äußerer Welt ein für ihn grundlegendes – es ist die eigentliche Quelle seines Schaffens. Die verschiedenen Ausdrucksformen der Kunst sind sein Mittel, um die Spannung zu ergründen und konstruktiv zu machen. Die Empfindung für Schönheit ist dabei ein Ausgangspunkt, den er im Laufe seiner Arbeit zu einer sich (gegenüber herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen positionierenden) politischen Ästhetik entwickelt.
Widerstand wird bei Weiss, dem Spannungsverhältnis folgend, ebenso als innerer Widerstand verstanden als auch auf die äußere Welt bezogen. Die Thematisierung von Widerstand ist bei Weiss nicht als Reaktion auf den Zwang der Herrschaftsverhältnisse beschränkt. Ihn interessiert, wie Menschen widerständig werden, wie sie versuchen auszubrechen und nicht umhinkommen, sich trotz Zwang und Gefahr, den Herrschenden zu widersetzen. Er widmet er sich den wenigen, aber in der Geschichte immer wieder auftauchenden Akteuren, die sich verweigern mitzumachen, zu dulden und zu ignorieren.
„(…) es ist ständig der gleiche Konflikt – der Dualismus von Utopie, Wunschbild, Traum, Poesie, Humanismus, Veränderungstrieb kontra Außenwirklichkeit, Dogma, Erstarrung, Zwang, Kompromiss, Repression. Immer handelt es sich um Menschen, die sich mit ihrer ganzen Person einsetzen für eine grundlegende Umwandlung der existentiellen Verhältnisse und die von der Realität in die Enge gedrängt und bis an den Rand der Vernichtung oder bis in die tatsächliche Vernichtung getrieben werden.“ (Peter Weiss in einem Interview in der ZEIT, 19.09.1971)
So auch in der Ästhetik des Widerstands, dem Opus Magnum Peter Weiss‘. Ursprünglich sollte der Roman nur Der Widerstand heißen. Mit dem Titel Die Ästhetik des Widerstands verweist Weiss bewusst auf das vielschichtige Verhältnis von [Ästhetik/Kunst] und [Politik/Widerstand]. Der Roman beschreibt exemplarisch die vom Widerstand ausgehende Ästhetik, die in der Kunst zu einer Widerstandspraxis wird, aber auch wie die Beschäftigung mit Ästhetik individuelle und kollektive Wege zum Widerstand herstellt. Er beschreibt, dass [Kunst/Ästhetik] immer mit Widerstand verbunden ist, dass alle ästhetischen Fragen und Formen politisch sind und umgekehrt. Ästhetik und Widerstand sind Kategorien des Lebens, die allem innewohnen und ausgelebt werden müssen.
Der dreiteilige Roman, an dem Weiss sich fast 10 Jahre abarbeitet, beschäftigt sich mit dem Weg von Menschen in den aktiven, antifaschistischen Widerstand. Weiss fokussiert sich besonders auf eine Gruppe, die als „Rote Kapelle“ von den Nazis verfolgt, verhaftet und vernichtet wurde. Aus der Perspektive des Ich-Erzählers wird die gesellschaftliche Situation und Entwicklung zwischen 1937 bis 1944 durch die Beschreibung des Erlebens von kontroversen Diskursen innerhalb widerständiger politischer Kreise nachvollziehbar. Das subjektive Weltverständnis des Ich-Erzählers (er möchte Schriftsteller werden und ringt auch deshalb um Grundsatzfragen der Ästhetik und Wahrheit) ist untrennbar verwoben mit dem Aufstieg des Faschismus und der Niederlage der sich widersetzenden Teile der Arbeiter*innenbewegung.
Der Roman erhält durch seine umfangreichen dokumentarischen Anteile eine authentische Aura. Alle Figuren (mit Ausnahme des Ich-Erzählers und dessen Eltern) haben real existiert. Ihr Leben und Handeln wurde von Peter Weiss akribisch recherchiert. Weiss‘ Anspruch war es, in seiner fiktionalen Beschreibung der Personen „nichts anzudichten, was sie nicht hätten tun oder sagen können“. Mit dem Roman entwickelte Weiss selbst eine widerständige Ästhetik. Der Text ist sperrig, widersetzt sich „normalen“ Lesegewohnheiten, kann und will nicht einfach unterhaltsam bzw. konsumierbar sein. Er setzt Inhalte ohne Punkt und Komma in Beziehung. Alles zielt darauf ab, dass die Lesenden sich die Ästhetik des Widerstands aneignen und sich unmissverständlich auf der Seite des Widerstands der wenigen gegen das von den Massen getragene Unmenschliche positionieren. Ziel ist es, dass sie die Ästhetik vereinnahmen und daraus eigene weiterführende Folgerungen ziehen.
In diesem Sinne wünschen wir beim Lesen, Hören und Sehen der Ästhetik des Widerstands Geduld und schöne, sich widersetzende, Erkenntnisse.