Peter Weiss und die Gruppe 47

Im Nachkriegsjahr 1947 – da ist Peter Weiss noch in seiner filmischen Schaffensphase – ruft der Autor Hans Werner Richter ein Schriftstellertreffen ins Leben, welches bis ins Jahr 1967 in regelmäßigem Abstand stattfinden wird: Die Gruppe 47. Bestehend aus teils wechselnden Autor*innen und Tagungsorten, verschreiben sich die Treffen der Entdeckung und Förderung neuer literarischer Stimmen. Auf die Frage, was die Gruppe 47 sei, antwortet Richter selbst: „Es ist keine Organisation. Es gibt keine Mitglieder. Es gibt keinen Präsidenten. Es gibt eben entsprechend keine Statuten und keine Beiträge.“ 1 So ehrenhaft dieses „Nicht-Programm“ auch sein mag – die Realität ist eine andere, wie sich im Folgenden zeigen wird.

Im Jahr 1962 – es ist Ende Oktober – wird Peter Weiss zum ersten Mal zu einer der berühmt-berüchtigten Tagungen der Gruppe 47 ins Berliner Alte Casino am Wannsee eingeladen. Nach einigem Zögern – sein Verhältnis zu Deutschland war gespalten – sagt er zu. 2 Zwei Jahre zuvor musste der Verleger Siegfried Unseld den in Deutschland noch völlig unbekannten Autor zunächst „wiederentdecken“: Der Verlagsgründer Peter Suhrkamp hatte das Manuskript von Der Schatten des Körpers des Kutschers vordem abgelehnt. Erst sein Nachfolger Unseld bekam das Typoskript erneut in die Hände und erkannte die Neuartigkeit des Textes und die Einzigartigkeit dieses literarischen Talents. 3 Mit diesem 1960 veröffentlichten Buch war der Name Peter Weiss zumindest einem kleinen Kreis der Literaturinteressierten der Bundesrepublik als Neuentdeckung ein Begriff.

Der Schatten des Körpers des Kutschers
Buch / Publikation: Der Schatten des Körpers des Kutschers
Hans Werner Richter (1908-1993), Gründer und "Boss" der Gruppe 47
© Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Felicitas Timpe
Foto: Hans Werner Richter (1908-1993), Gründer und "Boss" der Gruppe 47 © Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Felicitas Timpe

Nun soll Weiss seine Kunst auf dem sogenannten „elektrischen Stuhl“ unter Beweis stellen, wie der Sitzplatz von den Mitgliedern der Gruppe 47 scherzhaft genannt wird und von dem aus die Texte vor den Schriftsteller*innen, den anwesenden Verlegern und der Presse vorgetragen wird. Auf diesem Stuhl zu sitzen gilt nicht nur als Privileg, sondern auch als Tortur. Die Regeln der Veranstaltung sind geradezu gefürchtet: Zunächst musste einem die seltene Gunst widerfahren, vom spiritus rector und „Boss“ 4 Hans Werner Richter persönlich eingeladen zu werden. Zwar kommt eine solche Einladung einem Sechser im Lotto gleich – schließlich ist man damit in den Kreis einer literarischen Elite erhoben und zieht die Aufmerksamkeit der dort anwesenden Presse, Verleger und Kritiker auf sich – doch muss man sich der (beizeiten alles andere als) rücksichtsvollen Kritik aussetzen, ohne ihr auch nur im Mindesten mit Rechtfertigung oder Verteidigung begegnen zu dürfen. Einerseits winken Buchverträge und Preisgelder, andererseits kommt es auch vor, dass der Text verrissen und eine wiederholte Einladung unwahrscheinlich wird. Schlimmstenfalls versinkt man in der Bedeutungslosigkeit.

Peter Weiss liest aus seinem Gespräch der drei Gehenden, welches in seiner experimentellen Machart all sein stilistisches Können beweist. Die Lesung stößt auf großen Zuspruch und Anerkennung. Trotzdem tritt Weiss letztlich in der Stichwahl dem Lyriker Johannes Bobrowski das Preisgeld ab. Zudem wird Weiss das selbstgefällige Schauspiel dieser Veranstaltung bewusst. Ihm stößt ein Makel auf, der jedoch zu einer heiligen Regel der Gruppe 47 erhoben ist: Es möge nur über Literatur, aber niemals über Politik gestritten werden. Und: Der Text darf vom Autor nicht verteidigt werden. Der Text, mit dem Weiss brilliert, sichert ihm zwar die Treue und Zuversicht seines Verlegers Unseld, der ihm fortan ein monatliches Gehalt von 1.500 DM garantiert. 5 Doch macht diese erste Gruppe-47-Erfahrung dem Autor den erheblichen Mangel bewusst, der dieser Veranstaltung innewohnt: die Unmöglichkeit, in den Diskurs über den eigenen Text zu treten, entlarvt die Kritik als weltfremden Debattierclub für Literatur. Die Praxis der schutzlosen Preisgabe des Textes an das Urteil von einer Handvoll Möchtegern-Richter mag Peter Weiss an die perfiden Methoden aus der jüngeren Geschichte erinnern und das Bedürfnis zu einer weitaus ambitionierteren, agitatorischen, ja wehrhafteren Form von Literatur befeuert haben.

Tagung der Gruppe 47 1963 in Saulgau
Foto: Tagung der Gruppe 47 1963 in Saulgau
Porträtskizzen von Gunilla Palmstierna-Weiss zu einer Tagung der Gruppe 47 (wahrscheinlich 1964)
Gemälde: Porträtskizzen von Gunilla Palmstierna-Weiss zu einer Tagung der Gruppe 47 (wahrscheinlich 1964)
Peter Weiss am Schlagzeug, um 1963
Foto: Peter Weiss am Schlagzeug, um 1963

Im Jahr darauf, vom 25. bis 27. Oktober 1963, diesmal in Saulgau, präsentiert Weiss auf dem Treffen Auszüge aus einem Theaterstück, das von dem Revolutionär Jean Paul Marat handelt. Und er hat sich gewappnet: Zwar darf er sich dem Schweigegebot des Vortragenden nicht widersetzen, doch opponiert er, indem er Regeln bricht, die es noch nicht gibt: Er liest, sich selbst auf einer dumpfen Trommel begleitend, rhythmische Verse im Moritatenton. 6 Dies ist natürlich ein Aufbegehren gegen den strengen formalen Rahmen, den diese Veranstaltungen immer einzuhalten versucht hatten. Über diese Performance gibt es verschiedene Zeitzeugenaussagen. Manche behaupten, das Publikum sei überwiegend verstört gewesen. Manch einer feiert die Performance, doch die allgemeine Resonanz ist verhalten. Kaum jemand ahnt jedoch, dass ihm hier ein Text zu Ohren kommt, der bald auf allen Bühnen der Welt gespielt werden würde. 7

Vielleicht ist die verhaltene Reaktion auch einem Neid-Reflex seiner Kolleginnen geschuldet. Denn sogar, als das Stück kurz darauf am 29.04.1964 im Westberliner Schillertheater uraufgeführt wird, lässt sich niemand zu großer Zustimmung hinreißen. Unter den Anwesenden sind die Kolleg*innen Enzensberger, Bachmann, Böll, Grass und Johnson. Letzterer liest demonstrativ Zeitung. 8 Niemand zeigt sich beeindruckt. Die Presse hingegen ist euphorisch. Der Beifall der folgenden Aufführungen ist frenetisch. Der Welterfolg von Peter Weiss nimmt seinen Lauf.

Bemerkenswert angesichts der drögen literarischen Nabelschau der berüchtigten Treffen ist das Statement am Rande der Tagung, in der Ingeborg Bachmann kritisiert, dass die Gruppe ihr äußerst passiv und unpolitisch vorkomme und nicht darüber hinauskäme, auf eine reale Situation zu reagieren. In den Folgejahren wird sich dieses Symptom zu einer Krankheit ausweiten, die das Ende der Gruppe einläutet.

Ungewöhnlich in nur einer Hinsicht scheint das Treffen vom 10. bis 13. September 1964. Auf niemand anderes als Peter Weiss’ Anregung hin und mit wirtschaftlicher und politischer Unterstützung einiger schwedischer Intellektueller wird die Veranstaltung in das Gebäude der Volkshochschule in Sigtuna (Schweden) gelegt. Dies war insofern eine Besonderheit, als dass die Gruppe erstmals auf ausländischem Boden tagt. 9 Diese konzeptionelle Öffnung ist aber nur „semipermeabel“. Die geheime Hoffnung des Gastgeberlandes, das Treffen könne das beiderseitige Interesse für die Literatur der Länder befördern, blieb marginal. Die Gruppe stellt wie überall (und auch in den noch folgenden Gastgeberstaaten) nur ihre Leidenschaft für sich selbst zur Schau. Unter der Ägide des Unpolitischen wähnt sich die Vereinigung unantastbar. Dies mochte sie auch im ersten Jahrzehnt ihrer Existenz gewesen sein, die zweite Dekade jedoch zeigt zunehmend, dass die politische Realität an den Schutzmauern, die die Gruppe 47 um sich herum errichtet hatte, zu rütteln begann.

Ein letztes Mal folgt Weiss der Einladung im April 1966. Überschatteten 1962 noch Kuba-Krise und Spiegel-Affäre das Event, 10 so wirft diesmal die Bombardierung und die Entsendung von Bodentruppen nach Nordvietnam unter Präsident Lyndon B. Johnson seinen Schatten über das Ereignis. Ob Zufall oder Kalkül – die Umstände wollen es, dass das Treffen der Gruppe ausgerechnet in Princeton/USA stattfindet. Dies provoziert, dass sich die Tagung ungewollt in zwei parallele Ereignisse aufspaltet: Auf der einen Seite die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Lesungen. Dem Diktum, sich aller politischen Einmischung und Äußerung zu enthalten, wird hier hörig gefolgt. Nur der 24-jährige Peter Handke weiß sich hierbei mit seiner feurigen, die anwesenden Autor*innen über deren vermeintliche „Beschreibungsimpotenz“ brüskierenden Tirade einen bleibenden Eindruck in der Literaturgeschichte zu verschaffen. 11

Die Gruppe 47 in Princeton/USA; Bild: Renate von Mangoldt

Von der eskapistischen Veranstaltung setzen sich einige wenige Autoren ab, die den nicht zu leugnenden politischen Tatsachen eine Stimme geben wollen und eine Positionierung fordern. Hans Magnus Enzensberger und Peter Weiss bezogen Stellung – und ernteten dafür vom sonst so politisch dröhnenden Poseur Günter Grass scharfe Kritik. Auch Hans Werner Richter hüllt sich in Schweigen darüber. Beide Namen – Grass und Richter – sind schon Monate zuvor auf der Unterschriftenliste eines öffentlichen Briefes, der sich mit den amerikanischen Kriegsgegnern solidarisch erkläret, nicht zu finden. 12

Dieses Treffen im April 1966 ist der Gnadenstoß für das seit langem kritisierte Forum. Die elitären Strukturen und die politische Wirkungslosigkeit kommen noch aus einer Zeit, in der der Wunsch nach Ordnung legitim, der Glaube an die Politik erschüttert war. Die Wirklichkeit (der Vietnamkrieg und die aufkommende 68er-Bewegung) forderten jedoch nach einer neuen, einer politisierten Öffentlichkeit. Als im Jahr 1967 die Gruppe im Gasthof Pulvermühle in Oberfranken tagt – Peter Weiss ist nicht zugegen – ist es kein Geheimnis, dass es sich um das letzte Treffen handelt. Die Studentenbewegung versammelt sich vor Ort und versucht die Veranstaltung zu stören. Sie fordern Stellungnahmen gegen Springer-Konzern und Vietnamkrieg.

Zudem kann sich die Gruppe 47 dem Vorwurf des latenten Antisemitismus nicht mehr erwehren. Immer häufiger treten NS-Verstrickungen einzelner Autoren zutage: Alfred Andersch biederte sich der Reichsschrifttumkammer an, als er bei seinem Antrag auf Aufnahme den Nazis die Trennung von seiner jüdischen Frau bekannt gab; Günter Eich hatte ideologiekonforme Hörspiele produziert; ein Parteibuch verriet die Mitgliedschaft von Walter Jens in der NSDAP und nicht zuletzt Günter Grass’ Mitgliedschaft in der Waffen-SS waren späte Entdeckungen, die das Schweigen der Gruppe über den Zweiten Weltkrieg und das Dritte Reich in ein zweifelhaftes Licht rückte. 13 Dabei hätte es des Schweigens über den Nationalsozialismus nicht bedurft.

Die „geheime Reichsschrifttumkammer der BRD“, wie des Autorenvereinigung denunziatorisch auch genannt wird, will nicht mehr so recht in die Gegenwart passen. Nach 20 Jahren und 29 Treffen ist die Zeit der Gruppe 47 beendet.

  • 1 Deutschlandfunk, Stand 08.11.2022.
  • 2 Gunilla Palmstierna-Weiss: Eine europäische Frau (im Folgenden EEF), 2022, S. 280.
  • 3 Jens-Fiete Dwars: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss, eine Biographie (im Folgenden UDH), 2007, S. 114.
  • 4 youtube „Boss“ nennt Sebastian Haffner Hans Werner Richter in seiner Dokumentation über die Tagung der Gruppe von 1963. (Minute 04‘49, Stand 08.11.2022.)
  • 5 UDH, S. 135.
  • 6 Laut Gunilla Palmstierna-Weiss „trommelte Peter auf Töpfen und Deckeln, während er mit heiserer Stimme den Text dazu sang“, EEP, S. 358.
  • 7 Hierbei widersprechen sich die Quellen. Hier nach J-FD: UDH (2007), S. 146. Vgl. GP-W: „Der Kritiker Hans Mayer schnellte hoch wie ein Stehaufmännchen und sagte zusammenfassend: ,Das ist etwas Neues. Das ist ein Stück unserer Zeitʻ. Ein anderer Kritiker, Marcel Reich-Ranicki, soufflierte: ,Endlich haben wir ein zeitgemäßes Dramaʻ.“, EEF, S. 358f. Nach eigenen Aussagen waren für R-R die Lesungen von Grass aus der »Blechtrommel« und von Peter Weiss aus dem »Marat«-Stück die eindrucksvollsten Auftritte der Lesungen (Stand 08.11.2022)
  • 8 EEF, S. 361.
  • 9 EEF, S. 513.
  • 10 ZEIT-Feuilleton, (Stand 08.11.2022)
  • 11 ZEIT-Feuilleton, (Stand 08.11.2022)
  • 12 UDH, S. 197.
  • 13 Vom Glanz und Vergehen der Gruppe 47, (Minute 18‘00, Stand 08.11.2022)