Peter Weiss und die 68er

Die historischen Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts zogen eine Schneise durch Peter Weiss Leben und Werk. Die politische Umbruchsphase der 1960er bildet dabei keine Ausnahme. Seine Biographie prägten Stationen, die das Entstehen und den Zerfall der Student:innenbewegung begleiten. In seinem künstlerischen Schaffen, vor allem in seinem dokumentarischen Theater, schnitt er die Themen an, die die 68er beschäftigen. Robert Cohen schreibt dazu folgendes:

Peter Weiss war ein Vordenker der Studentenbewegung von 1968: in seiner Zuwendung zum Marxismus, in seiner Auseinandersetzung mit der faschistischen deutschen Vergangenheit, in seiner radikalen Kapitalismuskritik und in seinem Eintreten für die Befreiungsbewegungen der “dritten Welt”. Aber anders als Marcuse oder Adorno war Weiss kein Vater der Studentenbewegung, oder besser, er war ihr Vater und Schüler zugleich.
Cohen, R. (1992). Peter Weiss in seiner Zeit. Leben und Werk. J. B. Metzler, S. 212.

Diese Doppelposition zeigt sich etwa im Marat/Sade: Das Stück warf grundlegende Streitpunkte der Französischen Revolution neu auf und konfrontierte die Öffentlichkeit der 1960er Jahre mit der Frage, ob individuelle Verwirklichung oder die Fortführung der Revolution bis zur Überwindung aller Herrschaftsformen politisch höher gewichtet werden muss. Die Positionen wurden jeweils durch die historischen Figuren des Marquis de Sade und des Jean-Paul Marat besetzt. Das Stück verhandelt in deren Widerstreit Diskurse, die im Spannungsfeld der traditionellen und der Neuen Linken entstanden. Die verschiedenen Inszenierungen gewichteten die Standpunkte dabei unterschiedlich: Während Peter Brooks Londoner Inszenierung den Revolutionär Marat und seine Gefolgschaft in erster Linie als psychotisch charakterisierte, stellte die Rostocker Inszenierung die sozialrevolutionäre Position des Marat als überlegen gegenüber dem Individualisten Sade heraus.

Marat/Sade in der Inszenierung von Peter Brook, 1967

In der Figur des Marquis de Sade zeigen sich aber auch Tendenzen der einsetzenden sexuellen Revolution: Zentraler Ankerpunkt der Philosophie der 68er-Bewegung waren die freudomarxistischen Schriften von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse, nach denen die klassenlose Gesellschaft nur von sexuell befreiten Individuen aufgebaut werden kann, da, laut der Theorie, antiautoritäre Politik nur von Menschen betrieben werden kann, die sich von autoritärer Sexualmoral befreit haben. Demgemäß lässt auch Peter Weiss den Marquis de Sade fragen: „Denn was wäre schon diese Revolution ohne eine allgemeine Kopulation?“ 1

Das Stück wurde von der Studierendenschaft begeistert aufgenommen. Das Hamburger Abendblatt berichtet etwa am 24. April 1965 über eine Marat-Inszenierung: „Das zweite Wunder war der Andrang der Jugend, die bisher ja nur das offenbar vielgelesene Textbuch des Autors kannte.“ Die offene Grundfrage des Stücks wird dafür eine zentrale Rolle eingenommen haben: Im Erscheinungsjahr erscheinen Besprechungen des Stückes von Peter Schneider, Mitglied des Westberliner Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), und Jürgen Habermas, Soziologieprofessor und Mentor der Student:innenbewegung bis 1968, die die Thesen und Konflikte des Stücks diskutieren.

Das Hamburger Abendblatt über eine Inszenierung des Marat-Stücks 1967 in Hamburg

Marat/Sade war in Weiss Schaffen der Übergang zu einem konkreten politischen Theater, in dem das Fragen durch ein Feststellen abgelöst wurde. Das „dokumentarische Theater“ hatte den Anspruch „Wirklichkeitsfälschungen“ und „Manipulation“ aufzudecken und entgegenzuwirken. 2 Dabei bediente Weiss die Themen und Diskurse der 68er-Bewegung. Die Ermittlung, Der Gesang vom Lusitanischen Popanz und der Viet Nam Diskurs sind engagierte Stücke, mit denen Weiss versuchte direkt ins Zeitgeschehen einzugreifen und durch die ästhetische Aufbereitung von Dokumenten, seine marxistische Perspektive auf politische Entwicklungen in den öffentlichen Diskurs zu implementieren.

Peter Weiss bei der Uraufführung des Viet Nam Diskurs in Frankfurt am Main, 1968

Insbesondere der Popanz und der Viet Nam Diskurs spiegeln dabei den Internationalismus und Antiimperialismus der 68er wider. So bringt etwa der Popanz den Kampf der Befreiungsbewegung Angolas gegen die portugiesische Kolonisation auf die Bühne. Der Viet Nam Diskurs lieferte, wie Alfons Söllner es ausdrückt, einen „zeitgemäßen Frontalangriff auf den amerikanischen Imperialismus“ 3 . Zur Ausarbeitung des Stücks rekrutierte Weiss Jürgen Horlemann als wissenschaftlichen Mitarbeiter, der im Westberliner SDS als Vietnam-Experte galt. Bei der Münchner Premiere kam es zum Skandal als das Ensemble nach Spenden für Waffen für den Vietcong verlangte. Der Diskurs wurde nach nur vier Aufführungen abgesetzt und der Regisseur Peter Stein entlassen. 4

Jean-Paul Sartre und Peter Weiss beim Russell-Tribunal 1966

Nicht nur in seinem Werk, auch als öffentlicher Intellektueller und als Privatperson engagierte sich Weiss in der Antikriegsbewegung. Im Mai 1968 nahm er mit seiner Frau Gunilla in Paris an der Seite junger Arbeiter:innen und Student:innen an Solidaritätsveranstaltungen für Nordvietnam teil. Das Ehepaar erlebte die Straßenschlachten zwischen den Linken und der Polizei sowie die Besetzung des Quartier Latin durch militante Student:innen nicht mehr mit, da sie vorher nach Nordvietnam gereist waren. Bereits 1966 hatte Weiss gemeinsam mit Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre und James Baldwin am Russell-Tribunal teilgenommen, welches versuchte US-Amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam zu untersuchen, dokumentieren und öffentlich zu machen. Im Februar 1968 folgte eine Rede beim Vietnam-Kongress des SDS an der Technischen Universität Berlin, wo neben Weiss wichtige Akteure der 68er-Bewegung wie Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit und Ernest Mandel auftraten. 5

Die 68er-Bewegung überlebte kaum das namensgebende Jahr, bevor sie begann sich in ein zerstrittenes Spektrum aus K-Gruppen, linkssozialistischen und antiautoritären Gruppierungen zu zerfasern. Diesen Prozess bekam auch Peter Weiss zu spüren. Am 19. Januar 1970 störten linke Schüler:innen und Student:innen die Generalprobe seines Stücks Trotzki im Exil am Tag der Uraufführung im Schauspielhaus Düsseldorf, wodurch diese abgebrochen werden musste. Zuvor wurden Flugblätter verteilt, die dazu aufriefen Weiss als Scheinsozialisten zu entlarven, der es sich damit bequem mache, den toten Revolutionär Trotzki auf der bürgerlichen Düsseldorfer Bühne aufleben zu lassen, um im Anschluss Foyergespräche zu führen. Bei der Generalprobe stürmten Aktivist:innen der postdadaistischen Lidl-Akademie die Bühne. Als Weiss versuchte einzuschreiten, wurde ihm das Mikrofon entrissen und der Autor niedergeschlagen. 6

Dieser Moment markiert den wohl größten Tiefpunkt im Schaffen von Peter Weiss. Er hatte in die Student:innenbewegung große politische Hoffnungen gesetzt: 1968 bezeichnete er sie als die beste Entwicklung des Jahres, wenn in ihr auch „bürgerliche Revolution“ zum Ausdruck komme. 7 Im gleichen Jahr verfasst er eine weitere Notiz, die seinen Zwiespalt gegenüber der Bewegung illustriert: Als der Versuch scheitert an einem studentischen Theaterprojekt mitzuwirken, vermerkt Weiss: „Merke immer wieder: ich komm von ganz wo anders her.“ 8

Anmerkung: Der Artikel fokussiert sich auf die deutsche Student:innenbewegung. Der schwedische Kontext muss an anderer Stelle separat behandelt werden.

  • 1 Weiss, Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. In Suhrkamp & G. Palmstierna-Weiss (Hrsg.), Peter Weiss. Werke in sechs Bänden. Vierter Band. Dramen 1 (S. 155-255). Suhrkamp, hier S. 244.
  • 2 Weiss, Das Material und die Modelle. In Suhrkamp & G. Palmstierna-Weiss (Hrsg.), Peter Weiss. Werke in sechs Bänden. Fünfter Band. Dramen 2 (S. 464-472). Suhrkamp, hier S. 465.
  • 3 Söllner, A. (1991). Widerstand gegen die Verdrängung. In G. Palmstierna-Weiss & J. Schutte (Hrsg.), Peter Weiss. Leben und Werk (S. 267-293). Suhrkamp, hier S. 288.
  • 4 Kade, T & Siniawski, A. (8. Februar 2018). Performance an den Münchner Kammerspielen. Die Wirkkraft von 1968. In: Deutschlandfunk.de. Zugriff am 02.09.2023: https://www.deutschlandfunk.de/performance-an-den-muenchner-kammerspielen-die-wirkkraft-100.html
  • 5 Um ein ausführliches Bild von Weiss’ Polit-Biographie in den 1960er Jahren zu erhalten, bietet sich Schmidt, W. (2016). Peter Weiss. Leben eines kritischen Intellektuellen. Suhrkamp, als Lektüre an.
  • 6 Willner, J. (2018). Lenin und Dada, Weiss und Immendorff. Zur Sprengung der Generalprobe von Peter Weiss’ Trotzki im Exil, Düsseldorf 1970. In A. Hoffmann & A. Kappeler (Hrsg.), Theatrale Revolten (S. 165-188). Wilhelm Fink, hier S. 170-175
  • 7 Weiss, P. (1982). Notizbücher 1960-1971. 2. Band. Suhrkamp, hier S. 650
  • 8 Weiss, P. (1982). Notizbücher 1960-1971. 2. Band. Suhrkamp, hier S. 607